Morgengebete

[Tag 14]

Der Wecker klingelt schon zu früher Stunde um 6 Uhr. Jedoch nicht wegen des Frühstücks. Der Grund unserer morgendlichen Bettflucht ist ein anderer.

Noch im Halbschlaf schlüpfen wir aus dem Futonbett, ziehen uns schnell etwas über und verlassen das Zimmer. Wir werden dem buddhistischen Morgengebet beiwohnen. Da heißt es pünktlich sein. In der Gebetshalle des Hauses versammeln sich schon die ersten Teilnehmer. Ein süßer Duft von Weihrauch erfüllt den Raum. Zu uns stoßen auch andere Gäste des Hauses, welche unzweifelhaft gläubig sind. Denn sie tragen einen sogenannten Hangesa (半袈裟). Dies ist ein rituelles Gewand in Form eines Stoffbands, welches um den Nacken gelegt wird. Es symbolisert das Gewand Buddhas.

Wir nehmen Platz auf den Sitzbänken. Vor uns im Zweilicht liegt etwas erhöht das reich verzierte Heiligtum des Tempels. In dessen Zentrum befindet sich der Altar. Ein junger Mönch begrüßt uns und erklärt den Ablauf der Zeremonie. Er spricht zwar auf japanisch zu uns, doch Andreas gibt uns allen die nötige Hilfestellung. Zwei weitere Mönche und der Priester treten ein, während sie die Zeremonie mit einer Klangschale einläuten. Die Mönche und der Priester setzen sich an den Altar und stimmen eine melodisch-meditative Gebetsformel an, die sie immerzu wiederholen. Nach einiger Zeit erhebt sich der junge Mönch und fordert uns auf, nun für ein Gebet nach vorn zu treten.

Von den Anwesenden betritt einer nach dem anderen das Podest. Mittig vor dem Heiligtum steht auf einem kleinen Tisch eine Gebetsschale. In ihr glimmt etwas Weihrauch, welcher in den Raum emporsteigt. Man setzt sich vor die Schale auf die Knie und verbeugt sich einmal leicht. Sodann nimmt man drei Fingerspitzen frischen Weihrauch aus einem kleinen Behälter daneben und lässt diesen in die Schale fallen. Zuletzt folgt das stille Gebet. Nicht alle aus der Gruppe trauen sich nach vorn. Ich versuche es nach anfänglichen Zögern dann doch. Denn auch wenn man mit der Religion nicht vertraut ist, so wird die Teilhabe ausdrücklich begrüßt. Eine Enthaltung wird dagegen als eher unhöflich erachtet.

Während der gesamten Prozedur unterbrechen die Mönche ihren Meditationsgesang nicht. Auch nachdem alle Teilnehmer ihr Gebet gemacht haben, führen sie diesen noch einige Minuten unentwegt fort. Schließlich klingt die Zeremonie langsam aus und es wird wieder still. Der Priester spricht zu uns und hält eine kurze Predigt. Damit ist das Morgengebet beendet und es folgt sogleich das Frühstück.

Wie auch das Abendessen ist das Frühstück nach buddhistischen Regeln zusammengestellt. Teilweise befindet sich unter den Speisen recht ungewöhnliche Kost. Nicht jeder ist glücklich mit dem, was er da auf dem Tisch vorfindet. Jonas und ich probieren jedoch alles.

Nach Plan ist für heute eine ausgiebige Wanderung durch den Wald auf dem Fauenpfad geplant. Frauen war es zu alter Zeit verboten, die heiligen Stätten zu betreten. Aber auch die frommen Mönche in den Bergen schätzten offenbar die Zerstreuung weiblicher Gesellschaft. So gelangten die Frauen über den versteckten Pfad heimlich in den Ort. Doch in der Nacht hatte es stark geregnet und das Gelände ist unter diesen Umständen zu unwägbar. Das Vorhaben fällt darum leider aus. (Pech auch für die Mönche)

Stattdessen machen wir einen Spaziergang durch das Dorf und besuchen den Okunoin Friedhof. Kurz nach dem Frühstück setzen wir uns in Bewegung. Nebel umhüllt die Bergregion und taucht die Umgebung in eine mystische Atmosphäre. Vor allem der Friedhof wirkt wie verzaubert. Mit über 200.000 Gräbern ist der Friedhof der größte Japans. In seinem Innersten befindet sich das Mausoleum des Kobo Daishi, dem Gründerfater des Ortes. Hier an diesem Ort ruhen die Toten nicht. Sondern ihre Seelen warten auf den Tag, an dem sie gemeinsam mit Kobo Daishi empor fahren werden.

Etwa eine halbe Stunde wandeln wir auf dem Friedhofsweg, bis wir das „innerste Heiligtum“ erreichen. Links und rechts des Weges stehen unzählige uralte Gräber zwischen mächtigen Zedern, die bis in den Himmel zu reichen scheinen. Viele Mönche der umliegenden Tempel eilen an uns vorbei. Am Mausoleum treffen wir sie wieder. Dort herrscht mächtig Zeremonienbetrieb. Die Mönche prozessieren, singen und rezitieren Sutren. Wie wir erfahren ist heute ein Feiertag in Koyasan, das Shomieku. Dem Glauben nach trat der Meister Kobo Daishi am 21. Mai 835 in eine ewig währende Meditation, um die Welt vor Unheil zu beschützen. Selbst nach dem Tod seines Körpers führt seine Seele an diesem Ort die Meditation unermüdlich fort, bis heute und in alle Ewigkeit.

Solange der Raum ist
Solange die Lebewesen existieren
Bleibe auch ich
Um das Elend der Welt zerstreuen.

Kobo Daishi

Gleich nebenan finden wir die Laternenhalle, den Torodo. Darin befinden sich tausende goldgelb leuchtende Laternen. Einige von ihnen sollen seit mehr als 900 Jahren hier brennen. Der Anblick ist äußerst eindrucksvoll. Zwischen den Laternen wähnt man sich auf einem anderen Stern.

Laternenhalle

Auf dem Weg zurück zur Herberge halten wir noch an einem kleinen Lokal zum Mittagessen. Jonas möchte unbedingt die gebotenen Spagetti Bolognese probieren. Nach dem Essen trennen wir uns. Ich mache noch einen kurzen Spaziergang durch den Ort und sammel bei der Gelegenheit noch die verpassten Siegel vom Vortag ein. Wieder in der Herberge ruhen wir uns etwas aus und machen einen Mittagsschlaf. Später vor dem Abendessen nehmen wir natürlich noch ein entspannendes Bad. Gemeinsam mit den anderen genießen wir das buddhistische Festmal, bevor wir müde in unsere Futonbetten fallen.